Donnerstag, 19. September 2013

Kulturportfolio - 5 Von damals bis heute



5 Von damals bis heute

Es war einmal ein junges Mädchen namens Sophie. Ihr Zuhause war eine heimelige Hütte nahe einem dunklen Wald. Ihre Eltern lebten mit ihr in diesem Häuschen. Ihr Vater hackte gelegentlich in dem nahegelegenen Wald Holz für einen geringen Lohn und ihre Mutter arbeitete zu Hause. Ihre wenigen Freunde lebten alle in der Stadt in der man nach ungefähr einer Stunde Fußmarsch angelangte. Sophie durfte nicht zur Schule gehen, ihre Mutter erklärte ihr, dass das nur Jungs dürften. Sie fand das schade, ihre Neugier war geradezu grenzenlos und alles was neu war, interessierte sie zutiefst. Es war gerade Sommer und zurzeit besonders heiß und schwül. Da Sophie ihrer Mutter gerne beim Kochen half, ging sie eines Tages in den Wald um Kräuter zu suchen. Die kühle Waldluft bot eine willkommene Abwechslung zur drückenden Schwüle auf den offenen Feldern. Sie sprang mit ihrem Körbchen hin und her, ständig auf der Suche nach den duftenden Kräutern und Pilzen. Sie war froh aus dem Haus gehen zu dürfen. Gerade als Sophie die Tür schloss, meinte sie gehört zu haben, wie ihr Vater und ihre Mutter anfingen zu streiten. Das kam häufig vor, aber das Mädchen schlich sich dann immer nach draußen, um das alles nicht mit anhören zu müssen. Manchmal hörte sie sogar, wie ihr Vater ihrer Mutter schlug. Ihre Mutter so zu sehen tat ihr sehr weh, doch sie wusste, dass man sich als Frau nicht gegen die Männer auflehnen durfte. Ein einziges Mal war es bis jetzt vorgekommen, dass sie ihre Mutter gegen den Vater verteidigen wollte, doch sie kassierte dadurch nur eine Tracht Prügel. Dieses Ereignis wird ihr ewig im Gedächtnis bleiben, denn noch nie sah sie so große Angst in den Augen ihrer Mutter aufflackern. Aber sie wollte nicht länger an die schlimmen Dinge denken, also konzentrierte sie sich weiter auf das Kräuter und Pilze suchen. Doch es dauerte nicht lange und ihre Gedanken schweiften wieder ab.
Morgen war Sonntag und sie freute sich schon sehr darauf, ihr schönes selbstgemachtes Kleid in die Kirche anzuziehen mit den schicken Sonntagsschuhen, die ihre Mutter ihr mit dem ersparten Geld als Weihnachtsgeschenk gekauft hatte. Aber abgesehen von den schönen Kleidern freute sie sich außerdem darauf, den Sohn des Wirtes von dem Gasthaus in der Stadt wieder zu sehen. Sie wusste, dass sie keine gemeinsame Zukunft vor sich hatten, zumal ihr Vater bereits einen „tüchtigen und ehrbaren“ Mann für sie ausgesucht hatte, den sie heiraten sollte, um ein besseres Leben führen zu können als ihre Eltern. Aber trotzdem genoss sie die Zeit, die sie mit ihm verbringen konnte, sei sie noch so rar. Auf dem Weg in die Stadt sah Sophie immer wieder denselben Bettler am Wegesrande sitzen. Da sie von ihren Eltern gut erzogen worden war und es ihr im Herzen schmerzte, an einem so armen Mann vorbeizugehen, gab sie ihm jedes Mal entweder etwas Kleines zu essen, oder ein paar Münzen, die sie von ihrem eigenen Ersparten opferte.
Wenn sie dann in der kleinen Stadt ankamen, war es immer dasselbe Szenario: wohin sie ihre Köpfe wandten, überall begegneten ihnen Blicke der Verabscheuung. Die Städter hielten sich gemeinhin für etwas Besseres, deshalb versuchte Sophie sich besonders elegant und höflich zu geben, sobald sie einen Fuß in die Stadt setzte. Nach der Kirche trafen sich die Städter in dem Gasthaus. Sie tanzten, lachten und aßen gemeinsam an einem Tisch. Meistens wurden die neuesten Gerüchte beredet. Sophie erfuhr vor einigen Wochen, dass eine Frau, welche ein ungeborenes Kind gebar, aus der Stadt verbannt wurde und nie wieder zurückkehren durfte.
Vollkommen in ihre Gedanken und Träume versunken, übersah sie eine große Wurzel, über die sie nun stolperte. Sie stoß sich den Kopf an einem Stein und wurde bewusstlos. Jemand schrie „Sophie! Sophie!“ Nach wenigen Minuten – oder waren es nur Sekunden? – wachte sie wieder auf.

Sophie lag in ihrem Bett und dachte über den merkwürdigen Traum nach. Alles fühlte sich so real an, als wäre sie gefangen in jener Zeit in jenem Körper des Mädchens. Bald war der Traum vergessen, sie blickte auf die Uhr und sah, dass sie verschlafen hatte und ihre Mutter sie aufgeweckt hatte. Kurz überlegte sie, ob sie heute von der Schule zu Hause bleiben sollte, sie hatte sowieso keine Lust darauf. Doch dann entschloss sie sich, dass sie diesem Tag schon noch irgendwie überstehen würde, es war sowieso Freitag. Sie stand vor ihrem Kleiderschrank und konnte sich wieder einmal nicht entscheiden was sie anziehen sollte. Sie hatte so viele Kleidungsstücke, die sie eigentlich nie anzog und mit all den Stücken fast 2 Kleiderschränke voll. Trotzdem entschied sie sich spontan am Nachmittag shoppen zu gehen. Sie ging die Stufen nach unten, an ihrem Vater vorbei und fragte ihn im Vorbeigehen was es heute zu Mittag gäbe. Da Sophie die Antwort nicht gefiel, schuf sie ihm kurzerhand an, etwas Anderes zu kochen, was besser schmecken würde. Ihre Mutter war die Chefin eines großen Konzerns und war deshalb sehr selten zu Hause. Ihr Vater war öfter zu Hause und kümmerte sich um sie, so gut es eben ging. Doch bei den vielen Freunden oder Affären seiner Tochter, machte er sich nicht einmal ansatzweise die Mühe, den Überblick zu wahren und auf dem Laufenden zu bleiben. Als sie das Haus verließ, joggte sie zur Bushaltestelle und fuhr damit die kurze Strecke in die Schule. Dort angekommen tratschte sie sofort mit ihrer Freundin über den heutigen Abend. Sie planten bereits seit Wochen, dass sie an diesem Freitag bis spät in die Nacht ausgehen würden, um sich ein paar Jungs anzulachen. Beide freuten sich schon sehr darauf und diskutierten darüber, was sie wohl anziehen sollten.
Auf dem Weg ins Einkaufscenter sahen die beiden Freundinnen einen Bettler auf dem Straßenrand sitzen. Sie sahen sich an, begannen laut zu prusten und machten sich sogar über ihn lustig. Als er schließlich aufstand und ging, äfften sie ihn nach, bis er außer Sichtweite war. Sie folgten weiter dem Weg in das Shopping-Center. Dabei rannten sie an dutzenden Städtern vorbei, die gehetzt ihrem Alltag nachgingen und die Menschen in ihrem Umfeld nicht allzu große Beachtung schenkten.
Am Abend tranken beide so viel, dass sie nicht mehr richtig bei Sinnen waren. Nachdem ihnen die Jungs langweilig wurden, verließen sie den Club und machten sich auf den Heimweg. Da sie auf High-Heels unterwegs waren und sie beide bereits über die Grenzen angeheitert waren, geschah es, dass eine der beiden Mädchen eine Gehsteigkante übersah und mit dem Kopf hart auf dem Asphalt aufschlug. Die Andere bückte sich schnell und versuchte ihre Freundin aufzuwecken. Sie schrie „Sophie! Sophie!“. Doch dieses Mal wachte sie nicht mehr auf.

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